Fragmentation

Dämonen haben meine Seele umwölkt, aber Engel beflügeln mein Herz.

Dieser Essay erzählt den ersten Teil von Anna Rosas Geschichte, die Welt, in die sie hineingeboren wird und in der sie sich angesichts unvereinbarer Lebensumstände orientieren musste. Starke Strömungen drohen sie in den Abgrund zu ziehen, in die Unterwelt, wo Dämonen herrschen. Eine wundersame Lebenskraft hilft ihr, die Möglichkeiten und die Schönheit der menschlichen Verbundenheit zu erkennen. Interkulturelle Kommunikation wird schon früh zu Anna Rosas Lebenstraum. Er entspringt der Verankerung in anderen Welten und der Führung durch weise und gütige Schutzengel.

Anna Rosa wurde in einem Flugzeug geboren und ist seither in Bewegung geblieben. Ihre Mutter Ziska besteht darauf, dass sie die Pyramiden gesehen hat, als sie während der Wehen nach Luft schnappte. Anna Rosas Vater Anton schwört, sie hätten das Pantheon in Athen überflogen. Und der Pilot vermerkte, dass das kleine Mädchen bei der Landung auf dem Flughafen von Aman, Jordanien, sicher entbunden wurde.

Und was sagst du, Anna-Rosa? “Ich wurde zwischen den Welten geboren und fühle mich in der Spannungszone, dem kreativen Freiraum, am wohlsten.  – zwischen dem Establishment und der Revolution”. Sie fährt fort: “Es ist meine Berufung, den Zyklus des generationenübergreifenden Hasses und der Bitterkeit innerhalb und zwischen uns zu durchbrechen.

Für Anna Rosa war es ein langer und schmerzhafter Navigationsprozess die Minenfelder der kulturellen, moralischen und beziehungspolitischen Fragmentierung zu erkennen.

Sie wurde in einer Zeit großen Umbruchs in Deutschland geboren, ein Jahr nach dem Ende des Völkermordes und der invasiven Kriegsführung der Nazis mit dem daraus resultierenden Zweiten Weltkrieg als Vergeltungsmaßnahme. Die Menschen waren in Bewegung, zutiefst verstört von den Folgen ihrer Taten. Millionen suchten nach einem Neuanfang, träumten vom idyllischen Familienleben und davon, wieder zu den guten und korrekten Menschen zu gehören. 

Warum haben wir uns nicht daran erinnert und zeigen heute Empathie und Solidarität angesichts der entsetzlichen, katastrophalen Vernichtung der Palästinenser?

Damals wurde eine Decke des Schweigens und der Verleugnung über die nationale deutsche Psyche gezogen. Das Bewusstsein über die mörderische Geschichte und die Mittäterschaft wurde im Inneren der Menschen abgespalten und in den Untergrund verbannt.

Das absichtlich herbeigeführte, kulturell konstruierte Post-Nazi-Denken konzentrierte sich kollektiv auf den wirtschaftlichen Erfolg – das sagenumwobene deutsche Wirtschaftswunder – um zu zeigen, was wir aufgebaut, geschaffen, erreicht und besessen haben – ein Beweis, dass wir würdig sind.

Für Viele war dies eine moralische Ablenkung, da sie sich den Folgen der grausamen, entmenschlichenden Entscheidungen, die sie zuvor getroffen hatten, nicht stellen anerkennen und betrauern konnten. Es war Verleugnung um jeden Preis. Die Folgen waren für Viele eine tiefe Fragmentierung der Identität: der einerseits erfolgreiche äußere Performer. Anderseits das verbannte und unterdrückte Innere, emotionale, moralische und spirituelle Herz.

Und wie selbstverständlich verankerte sich die Gesellschaft wieder in einer autoritären Werteordnung mit dem Anspruch auf westliche, Europäische Überlegenheit.

Diese Fragmentierung ist bis heute so tief verwurzelt, dass die brutale und grausame völkermörderische Auslöschung palästinensischer Existenz so leicht und mühelos in den morastigen, moralischen Untergrund verdrängt wird.

Anna Rosas wiederkehrender Traum, in einem Flugzeug geboren zu sein, spiegelt die Bestrebungen ihrer Eltern für ihr Neugeborenes wider, tabula rasa, makellos. Neugeborene Deutsche waren sowohl die Hoffnung auf Wiedergutmachung als auch die Erben unbewältigter Schuld, Scham und Wut – das generationenübergreifende Trauma-Gepäck.

Ziska ermutigte ihre Tochter, in die Welt aufzubrechen. Sie schenkte Anna Rosa in jugendlichen Jahren neu erschienene Biografien von Pionierfrauen und -männern. Diese Menschen waren in der Welt aktiv und engagierten sich furchtlos als soziale Aktivisten gegen Rassismus und Bigotterie. „Es muss nicht so sein“, lautete Ziskas Botschaft. „Es kann auch anders sein“. Eine Art Aufforderung für Anna Rosa, vielleicht in gewisser Weise auch die unerfüllten Fantasien ihrer Mutter zu verwirklichen.

Für eine kurze Zeit konnten Mutter und Tochter gemeinsam planen und spielen; es war sehr lieb. Jedoch, die inneren Dämonen der Familie tobten und krallten sich ihren Weg zur Dominanz; Alkoholismus, Bitterkeit, Depression und Gewalt gewannen die Oberhand und hinterließen zwei verwirrte Kinder, Anna Rosa und ihren Bruder.

Statt eines sorglosen, ungetrübten neuen Lebens, das für Anna Rosa viel zu früh   endete, zerbrachen dringend benötigte Beziehungen.

Die sterbende Mutter, die in ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung in den Wellen der Gewalt, der Gehässigkeit und des seelischen Vandalismus ertrinkt.

Schule, Dorf, Gemeinde und Kirche waren bedrückend normativ, strafend und streng, was Anna Rosa Angst machte, aber auch eine starke Auflehnung hervorrief.

Anna Rosas Familie wurde aufgrund ihrer “falschen” Religion und ihrer inkompatiblen sozialen Stellung gegenüber der starren kulturellen Norm des ländlichen Dorfes “ausgegrenzt” und gemieden. Diese Strukturen waren nach wie vor patriarchalisch, homophob monoreligiös und autoritär.  

All diese Menschen, die anderen ein solch erdrückendes Netz der Konformität aufzwangen, hatten noch wenige Jahre zuvor mit Begeisterung massive Menschenrechtsverletzungen und Völkermord unterstützt.  Anna Rosa hat sich dieser Geschichte gestellt. Sie fühlte große Scham und Schuldgefühle, aber auch Wut und tiefe Traurigkeit über all die Versuche, ihr die schöpferischen Möglichkeiten zu nehmen, die sie sich für die Verbindung zwischen den Kulturen vorgestellt hatte. Ihr Ziel war Gemeinsamkeit mit Menschen, die aus jedwedem Grund ‚anders‘ sind, zu pflegen, die Vielfalt bejahen, großzügig und aufgeschlossen zu sein.  Sie versprach sich selbst, Normen und Stereotypen zu überwinden, kreative Allianzen zu knüpfen und mutig und fröhlich anders zu sein.

Anna Rosa war in Bewegung und fühlte sich im Transitbereich zu Hause, dem “neutralen Terrain” zwischen den Grenzen zweier Kulturen, dem mythischen Raum der Transformation. Hier traf sie andere beherzte Suchende, die wie sie einen Traum hatten, eine Vision von lebendigen, farbigen und vielfältigen Gemeinschaften, die zusammenwirken.

Zu diesem Zeitpunkt begann auch Anna Rosa, sich abzuspalten. Die Liebe, die Sicherheit und die Zugehörigkeit der ersten Jahre waren nicht mehr da, die Beziehungen zwischen Familie und Gemeinschaft waren zerrüttet. Als Teenager hatte sie dafür gekämpft, ihre Mutter vor dem Tod zu bewahren, ihren Bruder zu beschützen,. Sie versuchte zu reparieren, was nicht funktionierte, und wehrte sich gegen die Aggressionen und die Gewalt ihres Vaters, bis sie eines Tages kurz davor war, ihn anzugreifen, als er drohte, Ziska zu töten.

Wie bei vielen Kindern in traumatischen Situationen ist die Abspaltung der inneren und der äußeren Persönlichkeit ein Mittel zur Bewältigung, um zu überleben.  Äußerlich auf die soziale Bestätigung ihres Selbstwertgefühls ausgerichtet, strebte Anna Rosa danach, in der sozio-ökonomischen Sphäre des Lebens erfolgreich zu sein und Höchstleistungen zu erbringen.  Sie war intelligent, ehrgeizig und extravertiert und wollte in der interkulturellen Kommunikation weltweit arbeiten. Die faszinierenden Projekte von Anna Rosa werden im nächsten Essay beschrieben.

Ihre innere Persona, das emotionale Wesen, blieb gefangen und wurde von ihrer externen Persona unerbittlich kontrolliert. Über die Jahre entwickelte sich in ihr ein verwundetes Herz, das sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte. Verletzlichkeit zu zeigen und ihren Schmerz, ihre Scham und ihre Sehnsucht mitzuteilen, war ein Schwächezeichen, zu gefährlich, um es zu enthüllen.

Ihr ganzes Leben lang riefen diese kritischen, angstmachenden Dämonen oft emotionale Dissonanzen hervor, als feindselige Urteile, die auf Fehler und Unzulänglichkeiten hinwiesen.

Ein andermal war das Bedürfnis nach Rettung vor sich selbst durch einen starken, moralisch aufrechten, voll engagierten Anderen zu verspüren. „Habe ich nach Helden aus Ziskas Büchern gesucht,“ frage sich Anna Rosa? 

Waren das meine Vorbilder? Anna Rosa überlegte: “Habe ich versucht, Ziskas Träume zu erfüllen?

In späteren Jahren betrachtete Anna Rosa ihre Beziehungen. War es trügerisch, dass zwei Aspekte meines Wesens, die damals nicht integriert waren, vor der Tür eines Liebhabers auftauchten? Eine attraktive äußere Erscheinung, kultiviert und weltgewandt. Gleichzeitig erschien die innere Persona, ein selbstverliebtes, bedürftiges Kind, das Schwierigkeiten hatte, andere so zu akzeptieren, wie sie waren.  Sie hatte Erwartungen und stellte Anforderungen, was sie von ihren Partnern verlangte. 

In ihren reiferen Jahren begab sich Anna Rosa auf eine spirituelle Visionssuche, um Integration und inneren Frieden zu finden. Sie fühlte sich zu den Cederbergen in Südafrika hingezogen, wilde und wunderschöne Felslandschaften, die das Geheimnis alter Geister in sich bergen.

Anna Rosa fastete und lebte in Abgeschiedenheit. Nachts schlief sie auf einer dünnen Schaumstoffmatte unter dem majestätischen Sternenhimmel. Frühmorgens baute sie ein behelfsmäßiges Zelt auf, das ihr an heißen Sommertagen Schatten spendete.  

Eines Tages, wie aus dem Nichts, spürte sie eine überwältigend starke Energie, die sie umgab und in die Knie zwang. Sie erschien als eine majestätische, unaussprechlich gütige, kraftvolle und weise Energie.

Eine eindringliche Botschaft wurde Anna Rosa übermittelt: “Nicht den  Weg der Wütenden. Folge meinem Weg – was du vor dir siehst, ist wer du bist – sei so.  – Liebe, Weisheit und Barmherzigkeit”. Anna Rosa war zutiefst ergriffen. Sie erinnerte sich an spirituellen Gedichte von Jalaludin Rumi mit dem Titel ” Das Flüstern des Geliebten”.  War dies die Vision, um die sie gebeten hatte?

Anna Rosa, durchbricht den generationenübergreifenden Kreislauf von Bitterkeit, Hass, Selbstmitleid und Scham, den Viele vor dir durchlaufen haben. „Nimm dies als dein Ziel an, um dich selbst zu heilen und anderen zu dienen”.

Und so begann Anna Rosas’ emotionale und spirituelle Transformation, eine Reise, auf der sie sich der Wirklichkeit stellte – einer schmerzhaften, beschämenden und auch sehr hoffnungsvollen Wahrheit.

Anna Rosa akzeptierte, dass der tiefste Schmerz schon früh die moralische Verletzung war – “Ich bin genau wie sie”, flüsterte sie. Und fuhr fort, „auch ich war in dem rassistischen illusionären System der Überlegenheit gefangen, projizierte Schuld und alles, was ich an mir selbst nicht mochte, auf andere und verurteilte andere Menschen“. 

Durch die Lehren ihrer neu gefundenen Familie hier in Südafrika und vieler Freunde hat Anna Rosa erfahren, dass Bereitschaft und Offenheit zu erstaunlichen Entdeckungen führen, was unser gemeinsames Menschsein bedeuten kann.  Sie erinnerte sich an schöne, intime Zeiten, in denen sie mit Ziska sang, anmutige Momente der Liebe, die trotz des Elends geteilt wurden. Heute ist sie auch in der Lage, ihren Vater als sensiblen jungen Mann zu sehen, der aus einem missbrauchenden Elternhaus in den trügerischen Rausch von Grandiosität und Heldentum flüchtete. 

Und jetzt, hier, erlebt Anna Rosa das wundervolle innerer Schönheit und Würde von Menschen, die massive Repressalien und ihre Ausgrenzung während der Apartheid überlebt haben – “durch die Liebe, Gnade und im unerschütterlichen Glauben an Gott“, sagte Mama Nobanthu oft und fügt hinzu, „wir versuchen, unsere Bestimmung zu leben, indem wir angesichts von Leiden innere Resilienz entwickeln und einen Zustand der Lebensfreude anstelle von Groll und Bitterkeit anstreben” ( Zitat von Arch Bishop Desmond Tutu).

Während emotional und spirituell heilenden Gruppendialogen spricht Anna Rosa offen über ihren Prozess der Heilung ihrer eigenen Geschichte. Die abgespaltenen Persönlichkeiten, all die externalisierten Bewältigungsmuster und sabotierenden Aspekte sind heute willkommene Begleiter, die alle Teile von Anna Rosa in Einklang bringen, so zu sein, und sich für  Herzensgüte für selbst und andere zu öffnen.

Sie fährt fort: “Verletzlichkeit im Einklang mit Integrität zu zeigen, öffnet eine Tür zum Herzen, durch die der andere eintreten kann – ein sicherer und liebevoller Raum. – Mögen wir so den palästinensischen Frauen, Männern und Kindern gegenüber warm und einladend sein”.

Wir befinden uns inmitten einer seismischen Verschiebung der Weltordnung. Die vom so genannten Globalen Norden propagierten Werte wie respektvolle zwischenmenschliche Beziehungen, Gleichheit und Gerechtigkeit, werden in Frage gestellt, weil das erdrückende Schweigen über die grausame Zerstörung Palästinas die Seelen zerstört.  Die Definition von Demokratie erscheint heute aus der Sicht Vieler hohl und widersprüchlich; sie wird vom Globalen Süden als Vormund zum Schutz der Gesellschaften des Weißen Westens entwickelt angesehen.  Israels ungestraft stattfindender Völkermord, der für alle sichtbar ist, scheint diese Entlarvung der Doppelmoral noch zu beschleunigen.

Das Leiden der Palästinenser ist unsere Bürde und Verpflichtung, ihnen Heilungsmöglichkeiten anzubieten. Meine Essays sind als Einladung zu einem heilenden Dialog gedacht, in dem wir uns gemeinsam unserer Geschichte stellen.

Wir hoffen auch, eines Tages junge Israelis dazu willkommen zu heißen. Sie sind teilweise tief in Hass und Zerstörungswut versunken und wirken dadurch so entmenschlicht. Wir Deutschen kennen das!

Elke Geising