SÜDAFRIKA – Das Geschenk des Willkommens
Von Beginn an wurde ich hier in Südafrika mit wundervoller Herzlichkeit und Wohlwollen empfangen, und ich fühlte mich von vielen willkommen.
Ich kam auf Einladung von Luke und seiner Kollegin Glynnis, die sich beide für Transformation, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einsetzen. Das war im Jahr 2002, acht Jahre nach der Liberation von Apartheid. “Komm und arbeite mit unseren Schwestern”, sagte Luke. ” Bring deinen unternehmerischen Fähigkeiten, dein Fachwissen und deine Erfahrung als Mentor mit. Wir sind so lange von den Möglichkeiten der Unternehmensgründung ausgeschlossen gewesen”.
Luke trat als Trustee Nala – Partners bei, einer Organisation für soziales Unternehmertum, die ich in Kapstadt gegründet hatte, um Frauen bei Unternehmensgründungen und der beruflichen Entwicklung zu unterstützen. Mitte fünfzig endete für mich ein langer Zyklus als internationaler Business Manager, einschließlich des Aufbaus einer erfolgreichen internationalen Unternehmensberatung im IKT-Sektor. Meine Gedanken und mein Engagement richteten sich zunehmend dahin, mein Wissen, meine Fähigkeiten und meine Ressourcen mit Frauen in neu befreiten Gesellschaften zu teilen, wie z. B. in Afghanistan im Jahr 2001 und in Südafrika.
Seit meiner Jugend habe ich Bilder von Frauen in mir gespeichert, die auch in den härtesten Zeiten ihre Würde bewahrt haben. Ich erinnere mich an Fotos von jüdischen Frauen, die nach einem grausamen, unmenschlichen Transport in die Konzentrationslager der Nazis aus den Viehwaggons gezerrt wurden. Zerzaust, ausgehungert, blass und mit hohlen Augen blieben ihre Haltung und ihr Gesichtsausdruck zutiefst würdevoll.
Noch heute trage ich Fotos von afghanischen Frauen bei mir, die im Jahr 2001 ihren Schleier abnehmen konnten. Nach Jahren brutaler Unterdrückung und Todesdrohungen durch die Taliban lächelten viele so gelassen, andere blickten furchtlos in die Kamera und drückten damit aus: “Unsere Seele kann nicht zerstört werden”, so würdevoll und mutig.
Hier in Südafrika habe ich schwarze Frauen und Männer, farbige Menschen und muslimische Aktivisten getroffen, die kraftvolle Botschaften vermitteln: „Ich lasse mich nicht auf die Ebene des Hasses und der Bitterkeit herabziehen; meine Seele ist in der Noblesse des Glaubens und unserer Tradition, die Gemeinschaft zu ehren, verwurzelt”; sie zeigen Würde im Angesicht von Widrigkeiten. Dies war ein besonderes Willkommensgeschenk in Südafrika, ein solches Maß an menschlichem Ehrgefühl hatte ich noch nicht erlebt.
Als ich ankam, fühlte ich mich sofort zu schwarzen und farbigen Menschen hingezogen. Nicht lange danach hatte ich das Glück, hervorragende schwarze und farbige Führungspersönlichkeiten in den verschiedensten Fachgebieten kennenzulernen. Sie sind moralisch aufrichtig und setzen sich leidenschaftlich für Dialog, Vergebung und Versöhnung ein.
Ich traf angesehene schwarze Visionäre und hoch gebildeten Menschen sowie mutigen junge Leute in verschiedenen Townships, die ihre Lebensvisionen anstrebten, obwohl viele von uns Weißen den Lebenskampf der Afrikanischen Gesellschaft immer noch vorsätzlich ausblenden und sie nicht unterstützen.
Dies öffnete mir die Augen für die Ungerechtigkeit und Brutalität der Apartheid und die vorangegangene koloniale Unterdrückung der schwarzen Gesellschaft. Die Lektüre des Buches einer Freundin über Trauma und Vergebung zusammen mit vielen anderen historischen Berichten über schwarzes Leid und erbitterten Widerstand war sehr aufrüttelnd.
Ich wurde mir des Rassismus in mir und um mich herum bewusst. Die weiße Gesellschaft nach der Apartheid wies viele der gleichen Muster auf wie die deutsche Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus – beide sind auch heute noch in alte, Ressentiments verfangen: Ablehnung, wenn es darum geht, sich zerstörerischen Entscheidungen aus der Vergangenheit zu stellen und sich dazu zu bekennen, Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Schuldzuweisung, Selbst Viktimisierung und Zersplitterung, die eher trennen als vereinen.
Mein Weg, mich der Realität des Rassismus zu stellen, begann mit viel Unterstützung (auch wenn es oft herausfordernd war) durch Schwarze Menschen und eine Vielzahl von People of Color, die mir Gnade, Liebe und Barmherzigkeit zeigten. Während dieses Besinnungsprozesses begann ich, mich mit Schuld- und Schamgefühlen auseinanderzusetzen, die zuerst in meiner Jugend hoch gekommen waren, als ich über den Holocaust und die Rolle meiner Eltern darin lernte.
Der Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begann damit, dass ich meine tiefsitzende Scham betrauerte. In den kommenden Aufsätzen werde ich ausführlicher über den Prozess der Auseinandersetzung mit meinen Wertvorstellungen und Anschauungen schreiben und wie ich mich durch die Fragmentierung meiner Identität hindurch zu Akzeptanz und Integration durchgearbeitet habe. Das Leben mag manchmal schwierig gewesen sein, aber die Farbe meiner Haut war nicht einer der Faktoren, die es schwieriger machten.
Ein Auszug aus einer Ansprache von Dr. Beverly Tatum an der University of the Free State, Bloemfontein, 2013: The True Meaning of Reconciliation” (Die wahre Bedeutung von Versöhnung) beschreibt die Herausforderungen, die sich aus der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und unseren Entscheidungen ergeben:
… Sich auf eine sinnvolle Art und Weise auf diejenigen einzulassen, denen zu misstrauen wir sozialisiert worden sind, erfordert einigen Mut. Und warum? Weil wir mutig genug sein müssen, unsere Annahmen in Frage zu stellen und unsere Werte und Identität neu zu definieren.
Wenn wir eine bessere Gesellschaft wollen, eine Gesellschaft, die sich durch Stärke, Vertrauen und Einheit auszeichnet, müssen wir den Kreislauf unterbrechen, der die Stereotypen und vorurteilsbeladenen Einstellungen, die so entscheidend für die Aufrechterhaltung von Unterdrückung und Ungleichheit sind, aufrechterhält und verstärkt. ….. Dr. Beverly Tatum, Präsidentin des Spellman College, USA.
Ich habe großartige und großherzige Vergebung in Verbindung mit furchtlosem und leidenschaftlichem Engagement von schwarzen Überlebenden der Apartheid-Gräueltaten erlebt; ebenso gibt es inspirierende Beispiele von Weißen, die trotz des Verlustes von Familienmitgliedern durch Apartheid-Mörder Vergebung angeboten und aktiv an der Versöhnung gearbeitet haben. Diese Beispiele der Gnade ermutigen uns alle, über Hass, Opferrolle oder Apathie hinauszuwachsen.
Es war ein kostbares Geschenk, als mitfühlender Mensch trotz des Weißseins und kolonialer Siedlergeschichte in meine Afrikanische Familie eingeladen und aufgenommen zu werden. Ich habe viel von Mentoren, Freunden und klugen Menschen gelernt. Dieser Dialogprozess hat mich darin bekräftigt, wie entscheidend es ist, sich der eigenen Geschichte immer wieder bewusst zu werden.
Heute, 30 Jahre nach der “Befreiung” von der Apartheid, sind viele von uns Weißen immer noch damit beschäftigt, uns zu isolieren und zu distanzieren. Der Prozess des gemeinsamen Brückenbaus und der aktiven Aufarbeitung der rassistischen Ungerechtigkeiten ist so langsam und scheint mühsam zu sein.
Warum können wir nicht mitmachen? Manchmal fühle ich mich entmutigt. Haben wir Weißen unser Verfallsdatum in Bezug auf das Wohlwollen, das uns die schwarze Gesellschaft entgegenbringt, überschritten? Nette Gesten und die Weitergabe von Altkleidern reichen nicht mehr aus. Viele der jüngeren schwarzen Generation sind wütend, sagen es und zeigen es auch. Und viele junge Weiße sind in ihrem Ressentiment verhärtet, ihre rassistischen Privilegien aufzugeben und ziehen sich noch mehr in ideologisch inzestuöse, geschlossene Gruppen der Gleichartigkeit zurück.
Bei der Beschäftigung mit der Arbeit von Professor Archille Mbembe fallen diese Beobachtungen auf: …. Die Gestaltung der weißen Subjektivität – die Isolierung – die Segregation hat zu einer vorsätzlichen Ignoranz geführt, die nichts von der Realität der Schwarzen Gesellschaft weiß. Diese vorsätzliche Ignoranz ist die Grundlage dafür, dass man nicht in der Lage ist, mit der Welt der “Anderen” in Kontakt zu treten. Ich bin unwissend über das Leiden der Menschen, die ich unterdrückt habe; ich bin unschuldig. Das ist der auf Unschuld basierender ‘Sozialvertrag’, den Weiße miteinander haben ‘…
Dies deckt sich mit den Erfahrungen, die ich im täglichen Leben um mich herum mache. Auch dazu werde ich auf meiner Website Geschichten über alltägliche Begegnungen mit Menschen, die Hoffnung bringen, sowie über die schwierigeren Begegnungen veröffentlichen. In den Jahren des restaurativen Dialogs habe ich gelernt, dass es einen Weg gibt, die Tür durch die Mauern der Ablehnung in den jüngeren weißen Generationen zu öffnen, entweder in Gruppen oder individuell.
Es ist der Raum ihres und meines Schmerzes und Leids, der sich oft als herausfordernde Schwierigkeiten im Lebensmanagement manifestiert. Der Preis der Sozialisierung in eine Ideologie der Überlegenheit ist schrecklich. Müssen wir Weißen durch tiefes, möglicherweise lebensbedrohliches Leid (auf allen Ebenen) gehen, um “erreichbar” zu werden? Vielleicht.
In Gesprächen sage ich zu Teilnehmern: “Der Groll, den du dieser schwarzen Frau (deiner Nachbarin, Haushälterin, Lehrerin, Ärztin, Verkäuferin) entgegenbringst, kommt von irgendwo in dir. Wie oft an einem Tag hast du abwertende und hasserfüllte Gedanken und sprichst wütend und aggressiv zu ihr – zehnmal, hundertmal? In deinem Herzen gibt es einen Hassmuskel, der sich jeden Tag aufpumpt und größer und dominanter wird, wie ein Sixpack beim Bodybuilding.
Wie ist es mit deinem Herzmuskel? Wie oft am Tag fühlst und sprichst du Worte des Respekts und der Wertschätzung zu einer schwarzen Person – null? Vielleicht drei- oder fünfmal? Dieser Muskel schrumpft über die Zeit zu einem gefrorenen Herzen.
Das passiert mir, wenn ich grob urteile und kritisiere, ohne die andere Person überhaupt zu kennen. Mit jedem wütenden, nachtragenden Ausdruck und Wort entferne ich ein Stück meines Menschseins, bis ich so entmenschlicht werde, dass ich innerlich blockiert bin. Viele Menschen, denen ich in Heilungsdialogen begegne, versuchen sich ein Gefühl von Wert zu verschaffen, durch Ausgrenzung anderer, oder zum Zwang werdende Ersatzverhalten wie sozialer Status, Geld, Drogen, Alkohol, Nahrungsmittelsucht, sexueller Missbrauch.
Das ist eine tragische Illusion und führt zu einem Teufelskreis, der den Schmerz, die Scham und die psychische Instabilität nicht lindert, sondern eher noch verstärkt; er steigert die Ressentiments, vor allem gegen sich selbst.
Die Statistiken über häusliche Gewalt in der weißen Gesellschaft nehmen massiv zu. Wenn wir damit weitermachen, Schwarze zu hassen, zerstören wir uns in diesem Prozess selbst.
Wie können wir uns von unseren entmenschlichenden Überzeugungen und Handlungen befreien und miteinander in Beziehung treten, gemeinsam etwas aufbauen, einander zuhören und uns gegenseitig in unserer Vielfältigkeit wertschätzen? Es ist eine lange und komplexe Aufgabe, und sie beginnt damit, dass ich bereit, ehrlich und offen bin, mich darauf einzulassen. Ich möchte diesen Prozess in weiteren Schriften darstellen und in der Lage sein, Lösungen für einen friedensstiftenden Dialog anzubieten, sowohl innerhalb unserer weißen Gemeinschaft als auch über diese hinaus.
Es ist ein großes Geschenk, das südafrikanische Führungspersönlichkeiten heute den Mut haben, Israel wegen grober Menschenrechtsverletzungen und völkermörderischer Vernichtung Palästinas und der Palästinenser vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) zu berufen.
Die moralische Legitimität der südafrikanischen Führungskräfte als Verfechter des menschlichen Anstands und des Respekts für die Menschenwürde des Anderen wird in einem zur gleichen Zeit erschienenen Buch so ergreifend dargestellt; vielleicht ein Akt der “Providence”? “The Plot to Save South Africa – The Week Mandela Averted Civil War and Forged a New Nation”, von Justice Malala.
…..‘In seiner Fernsehansprache an die Nation am 13. April 1993, nach der Ermordung des hochverehrten Befreiungskämpfers Chris Hani, versuchte Nelson Mandela, einen neuen Patriotismus des guten, friedliebenden Südafrikaners zu bilden und ein Bollwerk gegen diejenigen zu errichten, die das Demokratieprojekt zu Fall bringen wollten.
Dies war ein Moment, in dem Mandela aufzeigte, dass Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden allesamt wichtig sind – und keines auf Kosten des anderen erreicht werden kann.
….. Mandelas Stärke war, dass er die “authentischen Ängste” seiner Gegner zu schätzen wusste, nämlich, dass es für viele weiße Südafrikaner unmöglich war, sich die Freiheit des Volkes vorzustellen, das sie jahrhundertelang gedemütigt hatten – und dass diese Freiheit ohne Rache kommen würde. …*.
Die Einladung von Nelson Mandela und den vielen Menschen, die mit ihm für einen friedlichen Übergang zur Demokratie gekämpft haben, war ein eindrucksvolles Geschenk an uns alle, als würdige Menschen – in Einigkeit!!! Das verpflichtet mich, so glaube ich, unser gemeinsames Menschsein, unsere menschliche Verbundenheit mit friedensstiftendem Engagement zu würdigen – in uns und zwischen uns.
Vor einigen Jahren, als ich mich mit Rassismus und seinen Auswirkungen auf das Leben um mich herum auseinandersetzte, beschloss ich, mich von der Unternehmensförderung wieder der psychologischen Arbeit zuzuwenden, um die Heilung von Beziehungswunden und Trauma-Reaktionsverhalten durch restaurativen Dialog und Mentoring zu unterstützen.
Ich glaube, dass es meine Bestimmung ist, “Verbundenheit” über die vielen kulturell bedingten Spaltungen hinweg zu fördern, die unsere Herzen erstarren lassen, und dies mit Respekt, Empathie und Fürsorge zu tun. Mein Ziel ist es, den Dialog über Diskriminierung und Stereotypisierung, Rassismus, Täter-Opfer-Dynamik und die daraus resultierenden generationsübergreifenden Auswirkungen einer traumatischen oder schambesetzten Geschichte voranzubringen.
Das Lehren von Pumla Gobodo-Madikizela war für mich ein großzügiges Geschenk der achtsamen Beratung und moralischen Inspiration. …In einem kulturellen Milieu, in dem die Verbundenheit mit anderen ein essentielles Merkmal menschlicher Beziehungen ist, geht die individuelle Identität über einen auf sich selbst bezogenen Individualismus hinaus. Die Identität eines Menschen wird durch die Beziehungen zu anderen geprägt und ist untrennbar mit deren Identität verwoben. Diese gemeinsame Menschlichkeit mit anderen wird im afrikanischen Konzept des Ubuntu zusammengefasst. …. Die Leitprinzipien von Ubuntu beruhen auf einer Moral, die auf andere ausgerichtet ist und die ethische Vision des Mitgefühls und der Fürsorge für andere fördert. ….*
Mein Herz und meine Seele sehen die Schönheit und Würde in anderen, die wir als unwürdige Abweichler geächtet haben. Mein Leben lang habe ich den Kontakt zu ” Ausgegrenzten ” gesucht und habe die Seelen von sozio-kulturell ausgestoßenen Menschen bewundert und mich von ihnen inspirieren lassen, die sich über die ihnen aufgezwungene zerstörerische Wut erhoben haben und dabei ihre Würde und Anmut zum Ausdruck brachten. Die Schönheit des anderen zu “erleben”, kann eine außerordentlich inspirierende Erfahrung sein.
Das Ende
Appendix:
Photo with Mom Nobanthu Gobodo.
*The Plot to Save South Africa – The Week Mandela Averted Civil War and Forged a New Nation, by Justice Malala. Simon & Schuster, April 2023.
*Pumla Gobodo-Madikizela. University of Chicago Press – Chicago Journal 2011 Vol 36 # 3 Intersubjectivity and Embodiment: Exploring the role of the maternal in the language of Forgiveness and Reconciliation.